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Interview

Die Höhen und tragischen Tiefen des Motorsports: 'Dafür gibt es kein Handbuch'

Die Höhen und tragischen Tiefen des Motorsports: 'Dafür gibt es kein Handbuch'

20-11-2023 20:00

Ludo van Denderen

Mit ein wenig Fantasie ist der Motorsport ein Synonym für das Leben: Es gibt die Höhen, die immense Freude, die Freundschaft, die Leidenschaft. Dann gibt es die dunkle Seite mit Rückschlägen, Traurigkeit und Verlust - im schlimmsten Sinne des Wortes. Der niederländische Rennstall MP Motorsport und sein Teamchef Sander Dorsman haben in nur 12 Monaten die höchsten Höhen und tiefsten Tiefen erlebt: vom Gewinn der F2-Meisterschaft mit Felipe Drugovich bis zum schrecklichen, tödlichen Unfall von Dilano van 't Hoff. "Dafür gibt es keine Handbücher."

"Wir wissen es zu schätzen, erfolgreich zu sein. Es ist wichtig, das nie als selbstverständlich anzusehen. Bleib immer mit beiden Beinen auf dem Boden und arbeite hart. Wenn du im Sport etwas als selbstverständlich ansiehst - vielleicht gilt das für alles im Leben - dann stehst du vor dem Abgrund. Deshalb ist es wichtig, ein Team von Leuten zu haben, die immer wieder die Herausforderung suchen, immer wieder nach neuen Elementen suchen, die dir helfen, dich zu verbessern."

Wer es nicht besser weiß, fährt einfach daran vorbei. An einer Durchgangsstraße in einem winzigen Dorf namens Westmaas (südlich von Rotterdam) befindet sich die Heimat des erfolgreichsten und bekanntesten Motorsportteams der Niederlande. Aus der Ferne sieht es aus wie ein Schuppen. Sander Dorsman hat sein Büro direkt neben dem Eingang. Sein Blick ist großartig: ein prall gefüllter Trophäenschrank. Die prominentesten Objekte sind die Trophäen für die Fahrer- und Konstrukteursmeisterschaft in der Formel 2, die Felipe Drugovich 2022 errungen hat.

Blindes Vertrauen ineinander

Im Motorsportland und unter Kennern gab es schon immer großen Respekt für MP Motorsport, das in der Formel 2, Formel 3, (spanischen) Formel 4, dem Eurocup-3, der FRECA und der F1 Academy antritt. Mit den Titeln in der F2 kam der endgültige Durchbruch zu einem breiteren Publikum. "Eigentlich hat sich für uns überhaupt nichts geändert", sagt Dorsman.

"Ich bin nicht überwältigt von unserer eigenen Leistung, ich war immer von unseren Qualitäten überzeugt. Wenn man eine Meisterschaft auf F2-Ebene gewinnt, ist das auch eine Kombination von Faktoren. Man hat gesehen, dass wir einen sehr guten Draht zu Felipe [Drugovich] hatten, dass er uns blind vertraut hat und wir ihm blind vertraut haben. Dann kommst du in eine Art Flow. Du bist unschlagbar. So ging es uns letztes Jahr auch. Wenn du dich in einer solchen Blase befindest, bist du sehr mit dir selbst beschäftigt und nicht damit, wie andere dich sehen."

Das ist nicht verwunderlich für ein Team, das - wie Dorsman sagt - einst mit "ein oder zwei kleinen Autos" angefangen hat und jetzt zu einem echten Kraftpaket herangewachsen ist. Der Schlüssel zum Erfolg? "Wir legen großen Wert darauf, dass die Atmosphäre bei uns immer gleich ist, egal in welches Team du kommst. Wir haben alle die Mentalität eines Gewinners. Wir haben alle das Gewinnen gerochen. Das macht süchtig. Wir wollen immer gewinnen und besser sein. Aber eine Sache ist wichtig: das Familiengefühl."

Dorsman lächelt, als er ein Beispiel dafür gibt, wie eng seine Gruppe ist."Ich bin stolz, dass wir ...", sagt der Teamchef, bevor er kurz innehält. "Wir hatten das F1 Academy Rennen in den Vereinigten Staaten. Unsere Crew kam und fragte, ob sie noch drei Tage bleiben könne, weil sie noch ein paar Orte in den USA besuchen wollte. Und sie haben alle eine Menge Spaß zusammen. Es ist mir sehr wichtig, dass sie neben ihrer Arbeit mit der gleichen Gruppe von Leuten Spaß haben können."

Kulturwächter von MP Motorsport

Zunächst spielt Dorsman seine eigene Rolle herunter. "Jedes Team hat seinen eigenen Teammanager. Das ist der wichtigste Klebstoff. Ich will mir da nicht zu viel herausnehmen", sagt er über den Erfolg von MP Motorsport. Nach einigem Drängen: "Es ist wichtig, dass ich als Kulturwächter im Unternehmen agiere. Ich achte sehr darauf, dass wir in allen Bereichen des Teams das gleiche Niveau und die gleiche Atmosphäre anstreben. Wenn das aus dem Ruder läuft, musst du Anpassungen vornehmen. Die Stärke unserer Organisation ist, dass sie sehr flach ist. Die Leute übernehmen viel Verantwortung, was wir auch fördern. Natürlich laufen die Dinge nicht immer gut. Aber in einem Sport wie diesem ist das sehr wichtig."

Versteh Dorsman nicht falsch: MP Motorsport ist keine Beschäftigungstherapie. Ganz im Gegenteil. Du musst Leistung bringen, der Druck ist hoch: "Ja, Druck gibt es immer. Das muss man auch anstreben. Wenn wir auf der Rennstrecke sind, wollen wir auch die höchste Qualität und das beste Ergebnis. Außerdem haben wir auch abseits der Strecke eine Menge Spaß. Dann ist es okay, die Anspannung für eine Weile abzulegen. Aber wie du sagst: Wenn du arbeitest, gibt es Druck. Das ist ganz einfach."

"Auf jeden Fall gilt das auch für den Teamchef. Es kommt darauf an, wie viel Druck du dir selbst machst. Du musst auch in der Lage sein, die Dinge ins rechte Licht zu rücken. Du musst dich weniger vom Druck leiten lassen, sondern mehr davon, wo wir hinwollen. Und zwar nicht morgen, sondern in einem Jahr. Das sind die Dinge, bei denen ich eine breitere Perspektive sehe. Ob ich abschalten kann? Dieses Spiel schwirrt immer irgendwo in deinem Kopf herum. Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht daran denke. In jeder Sportart hast du Druck. Wenn du gewinnst, hast du den Druck, weiter zu gewinnen. Wenn du in einer schwierigen Situation bist, ist der Druck groß. Aber du musst diese Helikopterperspektive behalten. So kannst du auch schwierige Situationen überblicken."

Trainer von Renntalenten

Als Ausbilder von Talenten spielt MP Motorsport eine wichtige Rolle auf der Motorsportleiter, von einem Team, mit dem ein junger Teenager seine ersten Schritte im Sport macht, bis hin zum endgültigen Vorstoß in die Formel 1."Nein, ich bin keine Vaterfigur, wohlgemerkt", schüttelt Dorsman die Andeutung sofort ab. Generell sagt er: "Ein Ingenieur auf F4-Ebene arbeitet mit sehr jungen Fahrern von 14, 15 Jahren, die keinerlei Erfahrung im Motorsport haben. Sie sind professionelle Kartfahrer, aber die Umstellung auf Einsitzer ist ganz anders. Dann geht es um die Bremstechnik, und man hat weniger Zeit auf der Strecke. Es ist plötzlich ein sehr großes Auto um dich herum. Bei den Ingenieuren geht es viel mehr um Coaching. Sie erklären dir die Technik und wie du in einem Auto schnell sein kannst. Dann coacht man viel mehr an der Person selbst."

"Ein Fahrer in der F2 hat schon viel Erfahrung. Dann geht es mehr um die Strategie. Ihr seid euch viel ähnlicher. Wenn ein Fahrer schon viel Erfahrung hat, wie Felipe, dann macht ihr zum Beispiel die Boxenstopp-Strategie zusammen. Normalerweise sieht man, wie sie sich mit 15 oder 16 Jahren von einem Kind zu einem jungen Erwachsenen entwickeln. Diese Entwicklung ist ziemlich schnell. Sie sind noch jung und haben noch keine feste Meinung. Sie sind wie ein Schwamm, der alle Informationen aufsaugt. In der F2 verbringst du wahrscheinlich sechs Jahre in Einsitzern. Dann hast du alles einmal gesehen und wirst zu einem gleichwertigen Gesprächspartner für einen Ingenieur."

Dilanos Tod war mehr als ein Schlag mit dem Vorschlaghammer

Der aus der FRECA stammende Dilano van 't Hoff war eines der aufstrebenden Talente bei MP Motorsport. Zu Beginn dieser Saison kam der 18-jährige Niederländer bei einem schrecklichen Unfall auf der Rennstrecke von Spa-Francorchamps tragisch ums Leben. Sofort kam eine Diskussion darüber auf, ob junge - manchmal noch - Kinder in den Motorsport einbezogen werden sollten."Ich finde das eine heikle Diskussion", sagt Dorsman. "Erst kürzlich ist ein junger Radfahrer gestorben. Meiner Meinung nach gibt es leider ziemlich viele junge Menschen, die in letzter Zeit im Radsport gestorben sind. Das ist keine Besonderheit des Motorsports. Wenn es in unserem Sport passiert, ist das ein harter Schlag für alle, denn zum Glück sind wir das nicht gewohnt. Leider ist es bei uns im Team passiert. Dann ist es kein Hammerschlag, aber alle liegen zitternd am Boden. Für uns ist das ein bisschen extremer. Es ist sehr schwierig, aber zum Glück nicht Standard im Motorsport."

Der Unfall ist jetzt fünf Monate her. "Schrecklich", nennt Dorsman die ersten Tage danach. "Ich glaube, die haben wir wie im Rausch durchgemacht. Es hat deinen Zeitplan über den Haufen geworfen und alle haben sich gegenseitig unterstützt. Es ist sehr tragisch. Wir wollen für die Familie da sein, so gut wir können. Und trotzdem waren seine Mutter und seine Schwester kürzlich hier. Das zeigt, dass wir uns sehr nahe gekommen sind, ein starkes Band haben und alle dabei sind, den Verlust zu verarbeiten. Auch das wird einige Zeit dauern."

"Dafür gibt es keine Gebrauchsanweisungen. Dann fließen viele Tränen, und viele Menschen stehen unter Schock. Die Menschen sind wütend, und die Emotionen gehen überall hin und nirgendwohin. Das habe ich natürlich auch. Die ersten Wochen waren da sehr schwierig. Im Zelt unseres FRECA-Teams haben wir große Bilder von Dilano. Auf der Rennstrecke machen viele Leute Fotos davon. Andererseits gibt uns das Unterstützung und es ist schön, dass er auf diese Weise immer noch bei uns ist. Bei der Abschiedszeremonie herrschte die Stimmung: Alle sind sehr traurig und es gab viele Tränen, aber - wie soll ich sagen - es war eine Feier von Dilanos Leben. Es war ein schöner und würdevoller Abschied."

Auf jeden Fall werden MP Motorsport und Sander Dorsman ihren Dilano nie vergessen. Neben den F2-Trophäen, die auf dem Empfangstresen des Teams ausgestellt sind, steht ein maßstabsgetreues Modell von Dilanos Auto. Auch das ist Dorsmans Blick aus seinem Arbeitszimmer.